Saturday, January 13, 2007

Wer wird Rezensent? Die Verkaufsplattform "Amazon" zum Mitmachen für jeden

Der 1994 in Seattle gegründete Internetshop „Amazon“ ist der weltweit erfolgreichste Einzelhändler für Bücher im Internet. Jedoch beschränken sich die Funktionen der Internetseite nicht auf den bloßen Kauf von Büchern. Mit zusätzlichen Leistungen wie Kundenrezensionen, Punktebewertungen, Verlagstexten, eigenen Amazon-Kritiken und vielem mehr bietet die Internetseite dem Kunden zahlreiche zusätzliche Informationen über das literarische Objekt der Begierde. Die Frage, die sich dabei unweigerlich stellt ist, ob überhaupt noch eine Bedürfnis nach oder eine Notwendigkeit für Kulturjournalismus in der herkömmlichen Form besteht, wie er hauptsächlich in Printmedien zu finden ist. Kann sich Heinz, 37, Einzelhandelsverkäufer aus Brunsbüttel in Zeiten von 19% Mehrwertsteuer, befristeten Arbeitsverträgen und steigenden Zigarettenpreisen nicht die knapp 8 Euro für die monatliche Ausgabe „Literaturen“ sparen und die benötigten Infos bei den Buchexperten aus Seattle einholen?

Unser Augenmerk soll sich zunächst auf ein nahezu exklusives Feature von Amazon richten: Die Kundenrezension. Jeder registrierte User hat die Möglichkeit, seine persönliche Kritik zu einem Buch auf der zugehörigen Artikelseite zu publizieren. So besteht für Hinz und Kunz die Chance, mit der eigenen Buchrezension auf einer von Millionen von Menschen besuchten Internetplattform Ruhm zu ernten. Jedoch unterscheiden sich die so entstehenden Texte stark von Kritiken, die man aus den Feuilletons von Zeitungen und Magazinen kennt. Zuerst fällt der geringe Umfang ins Auge. Professionelle Literaturkritiker können mit Ihrer Meinung ganze Zeitungsseiten füllen, die Amazon-User hingegen kommentieren ein Werk oft nur mit wenigen Phrasen. Meist ein locker formuliertes Statement, das nur den subjektiven Leseeindruck schildert. Die Bewertung beschränkt sich auf kurze Prädikate wie „lustig“, „spannend“, „unterhaltsam“. Von einem hohen literarischen Anspruch, wie ihn Rezensionen von hauptberuflichen Kulturjournalisten oft haben, keine Spur. Ijoma Mangold beschreibt und bewertet in seiner Rezension zu „Beim Häuten der Zwiebel“ im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 19.08.2006 mit einer geschliffenen Sprache auf höchst detaillierte Art und Weise Grass’ Sprachstil und die literarische Form seines Werks, wohingegen ein Amazon-Kunde das Werk mit einigen kurzen Worten kommentiert: „Günter Grass hat hier seine wunderbare Lebensgeschichte aufgeschrieben. Das Buch ist mitreißend, fesselnd und absolut authentisch. Die Kapitel über die Jugend, den Krieg lassen mich als jungen Menschen nicht mehr los. Die rhetorischen Fähigkeiten Grass' werden in diesem Buch ein weiteres mal bewiesen.“ Der Nutzwert einer solchen Rezension für Kunden, die sich ausgiebig über die Qualität eines literarischen Werks informieren wollen, ist eher zweifelhaft.

Die Funktion „Kundenrezension“ scheint so eher für die Bewertung eines Staubsaugers als für die eines literarischen Werkes geeignet. Wahrscheinlich genau aus diesem Grund findet man auf den Produktseiten zu Büchern oftmals noch eine Kritik der „Amazon.de Redaktion“. Diese Texte sind eher an feuilletonistische Literaturrezensionen angelehnt, auch wenn die Autoren meist wenig bekannt sind. Nur für die Rezensionen von wichtigen Werken mit Bestsellerpotential beauftragt Amazon namhafte Journalisten, wie Thomas Köster für die Kritik des oben genannten „Beim Häuten der Zwiebel“, der unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel geschrieben hat. Bei weniger erfolgreichen Büchern beschränkt sich Amazon auf den Abdruck des Verlags- oder Klappentexts.

Nun interessiert natürlich, wer oder was diese mysteriöse „Amazon-Redaktion“ sein soll, die Bücher für die Kunden rezensiert und vorstellt. Die mühselige Suche nach einem Kontakt, der Licht ins Dunkel bringen soll, führt zu einer Emailadresse und einer Telefonnummer. Das Anschreiben jener Adresse lehrt jedoch Geduld, denn auf eine Antwort zu warten ist vergeblich, und wenn doch erhält man nur die spärliche Aussage, dass aufgrund der vielen Anfragen Amazon die Fragen nicht beantworten könne, und eine Zusammenfassung der Eigendefinition des Betriebes: Es handele sich bei der Redaktion um Firmeninterna. Und sogar die Kontaktaufnahme mit den Mitgliedern der Redaktion scheitert, da auch sie sich weigern Informationen preiszugeben. Das Mysterium um diese ominöse Arbeitsgruppe der Verkaufsplattform wächst. Sitzen die Redakteure in einem abgeschotteten Bunker unter Bad Hersfeld und werden als Amazon-Geheimagenten von der Öffentlichkeit fern gehalten, um für die Verlage werbewirksam eine pseudo-objektive Meinung zu präsentieren? Das wohlbehütete Geheimnis wird sich wohl nie lüften.

Darüber hinaus gibt es, wie eingangs erwähnt, die Möglichkeit selbst aktiv zu werden, Kritiken zu schreiben und Artikel zu bewerten. Allerdings muss eine Kundenrezension bestimmte Richtlinien einhalten. In einem Selbstversuch haben „Ovid37“, „Max König“ und „Bernd Königsberg“ die Grenzen der Akzeptanz im Hause Amazon ausgetestet. Sie schreiben Kritiken und geben dabei alles. Sie klauen bereits in Zeitungen veröffentlichte Rezensionen, beleidigen die anderen Kundenrezensenten, sie bewerten noch nicht veröffentlichte Bücher. Schließlich schreibt „Bernd“ eine letzte Kritik, in schlechtem Deutsch, völlig unpassend, doch er hat Glück: Sie wird online gestellt. Was passiert nach dem Einreichen einer nicht richtlinienkonformen Rezension? Die Antwort ist kurz: Nichts! Der Megakonzert Amazon hält es nicht für nötig, die User zu informieren, ob ihre Rezensionen veröffentlicht wurden, wenn nicht, warum, und noch nicht einmal Zuwiderhandlungen zu verfolgen. „Ovid“ wurde wegen des Plagiats bis zum heutigen Tage nicht gemaßregelt.

Über Amazon mag man denken, was man will. Es hat seine guten Seiten, auch wenn kleine Buchhandlungen vermeintlich geschädigt werden. Die bestellte Ware wird Heinz, 37, Einzelhandelsverkäufer aus Brunsbüttel garantiert schnellstmöglich erreichen und höchstwahrscheinlich zufrieden stellen. Darüber hinaus sollte man jedoch nicht zu viel erwarten, denn sieht man genauer hin, wird klar, dass man im Stich gelassen wird: Kein Feedback, keine Benachrichtigungen, keine Hilfe. Zumindest dann, wenn man selbst am Inhalt der Seite mitarbeiten will.
Auf der anderen Seite kann Heinz getrost schreiben was er will und Schandluder mit seinen Einträgen treiben, da sich Amazon um „kleine Fische“ scheinbar nicht schert. Schlussendlich ist festzustellen, dass der Kulturjournalismus nichts vonseiten Amazons zu befürchten hat. Lediglich bei den Kundenrezensionen sollte man sich vergewissern, dass nicht die eine oder andere wohl formulierte Rezension eines renommierten Blattes plötzlich unter einem der vielen Artikel auftaucht und als das Gedankengut eines Users ausgegeben wird.

S.H. und D.H.

9 Comments:

Blogger Eingebung said...

die informationen, die ihr gebt, finde ich gut ausgewählt. Da könnte ja amazon noch was lernen, wenn es den text liest. -andré-

5:20 AM  
Blogger Eingebung said...

Ich finde euren Artikel schon sehr gut. Hie und da sind vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten, aber die werden ja in der letzten Sitzung ausgebügelt. Die Überschrift ist auch gelungen. Gut finde ich auch die Gegenüberstellung der Qualitäten von "Kundenrezensionen" und Feuilleton.

AD

5:54 AM  
Blogger Eingebung said...

Klasse, wie ihr mittles eurer Spionagearbeit trotz der schweigsamen Amazon-Redaktion Licht ins Dunkel bringt. Und vielleicht guckt ja der nächste Reporter im Bad Hersfeld-Lager nach einer Kellertreppe? :)
SJ

8:29 AM  
Blogger Eingebung said...

Gut finde ich, dass ihr ohne große Umschweife direkt auf die Probleme bei Amazon zu sprechen kommt. Im Mittelteil eures Textes habt ihr einige sehr lange Sätze, die man eventuell noch kürzen könnte.Gelungen ist auf jeden Fall der ironische Ton des Artikels und die lustigen Einschübe. D.S.

4:25 AM  
Blogger Eingebung said...

Der Artikel ist wirklich gelungen und es hat Spaß gemacht ihn zu lesen.
NW

4:47 AM  
Blogger Eingebung said...

Auch ich kann mich in weiten Teilen den bisherigen Meinungen anschließen. Euer Artikel ist sehr schön aufgebaut, man kann ihm von Anfang bis Ende ohne Probleme folgen.
Den Aufhänger mit den Rezensionen, über die ihr der "ominösen" Amazon-Redaktion auf den Zahn gefühlt habt, finde ich super. Über den gelungenen ironischen Tonfall kommt er in eurem Text besonders gut zur Geltung.
An einigen anderen Stellen fehlt mir in eurem Artikel allerdings ein bisschen der Witz bzw ein Anreiz zum weiterlesen.
Insbesondere euer Anfang könnte ein wenig attraktiver gestaltet werden. Obwohl ich es im Prinzip nicht schlecht finde, dass ihr sofort auf das eigentliche Thema zu sprechen kommt, hätte ich mir doch einen kleinen Einstieg gewünscht, der mich sofort an den Text fesselt. Vielleicht eine kleine Anekdote aus
euren Erfahrungen als Amazon-Rezensenten...
mm

6:31 AM  
Blogger Eingebung said...

Auch ich kann mich den vorigen Meinungen nur anschließen. Das Lesen eures Artikels hat Spaß gemacht. Der Inhalt und auch der Aufbau des Textes sind prima. Ich finde nur den Anfang des Artikels etwas langweilig, könnt man also eventuell verbessern. Auch eurem Stil könnte man noch etwas mehr Witz hinzufügen. Aber darüber lässt sich natürlich, wie über vieles, streiten.
JH

6:58 AM  
Blogger Eingebung said...

ich finde die Idee mit Heinz aus Brunsbüttel witzig! Das ist mal was anderes, vollkommen unkonventionell und außerdem hat "Heinz" îrgendwie die Form einer Identifikationsfigur - oder einer Art "Medium, das zwischen amazon und dem Verbraucher vermittelt. Am Anfang und am Ende greift ihr das auf und nehmt noch explizit und kritisch Stellung. Auch ist gelungen, wie ihr eure umfangreichen Informationen über und um amazon herum einbringt. Im Ganzen finde ich den Artikel echt gelungen. AV

8:18 AM  
Blogger Eingebung said...

Ein gut lesbarer und schön geschriebener Text, jedoch solltet ihr eure Zeichensetzung nochmal überarbeiten. Ich hätte mir auch gewünscht, etwas mehr über die Inhalte der "verbotenen Rezensionen" zu erfahren. Ansonsten Daumen hoch!
TL

9:47 AM  

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