Thursday, October 19, 2006

Sonntagszeitung, 28.07.2002: „Meine Mission“ – Alexander Dengler, der „Top-Rezensent” von Amazon.de, über das Elend der Kritik

Glückwunsch Herr Dengler, Sie sind mit 146 Rezensionen zum ersten Top-Rezensenten beim Online-Buchhändler amazon.de ernannt worden. Haben Sie heute schon eine Rezension geschrieben?

Heute noch nicht, aber am letzten Sonntag. Ein Anwaltsthriller von John T. Lescroart: „Der Schwur”.

Wie viele Besprechungen schaffen Sie im Monat?

So zwischen vier und acht.

Warum schreiben Sie Rezensionen?

Ich liebe das Lesen und Schreiben! Ich betrachte es als großes Geschenk, daß ich das grobe Talent zum Schreiben in meinen Genen hatte und es weiterentwickelt habe. Und das ist die Verbindung zum Lesen. Autor, Leser, Kritiker sein, das ist das, was mich glücklich macht.

Aber Sie arbeiten als Möbelkaufmann?

Ja, noch. In naher Zukunft möchte ich aber als Autor arbeiten. Mein Agent ist bereits mit Verlagen im Gespräch. Ich habe einen Roman geschrieben, einen Thriller, der das Beste der Autoren verbindet, die ich bewundere.

Welche Autoren sind das?

John Grisham, David Baldacci, Daniel Silva, James Petterson und Ken Follett.

Deutsche Autoren schätzen Sie nicht?

Nein. Es gibt drei oder vier, die mäßig spannend schreiben, aber das war's dann auch. Viele alte deutsche Autoren setzen sich mit der modernen Spannungsliteratur nicht mehr auseinander, und die jungen deutschen Talente, so scheint es leider im Land der Dichter und Denker, können nichts anderes, als dichten und denken.

Zurück zur Literaturkritik. Lesen Sie regelmäßig Kritiken, die in Zeitungen veröffentlicht werden?

Ja, aber die sind leider oft sehr schlecht. Die Zeitungskritiker betrachten den Roman oft aus dem falschen Blickwinkel. Sie achten nur auf die Charaktere und haben kein Auge für den Plot. Der ist aber das A und O. Ohne diesen funktionieren auch keine guten Charaktere. Wenn der stimmt, dann kommt für mich der Schreibstil. Schnell und knapp. Nichts Tragendes oder Überflüssiges, was den Leser nur seiner wertvollen Zeit beraubt.

Haben Sie Vorbilder unter den Rezensenten? Was halten Sie etwa von Marcel Reich-Ranicki?

Ich mag das Kauzige an Reich-Ranicki, aber ich teile in keinster Weise seine Ansicht in Sachen Bücher. Für ihn zählt nur „hohe Literatur”. Für mich das, was am meisten gelesen wird: Thriller, Krimis, Abenteuer-, Liebes- und auch Gesellschaftsromane.

Seit wann schreiben Sie Rezensionen?

Seit es Amazon in Deutschland gibt, seit Ende 1998.

Was reizt Sie daran?

Mein Wissen den Lesern mitzuteilen und Bücher, die es verdienen, zu mehr Erfolg zu verhelfen.

Haben Sie schon mal daran gedacht, auch für Zeitungen zu rezensieren?

Bis jetzt nicht, aber es wäre durchaus eine Überlegung wert. Da ich ja selbst Autor bin und mich besonders mit den Thriller-, Krimi- und Abenteuergenres auseinandersetzte, weiß ich darüber meist bessere Kritiken zu verfassen als die, die dies als Hauptberuf ausüben.

Wieso soll denn der Autor der bessere Kritiker sein? Muß ein Gastro-Kritiker auch Gourmet-Koch sein?

Nein, Sie haben natürlich recht, daß nicht jeder das tun muß, was er kritisiert. Aber für mich ist das Lesen, Schreiben und Kritikenverfassen ein Dreieck, das sich ergänzt. So kann ich für mich vieles objektiver betrachten, mich immer wieder selbst kritisieren, und das eine verbessert die Sicht auf das andere und umgekehrt.

Amazon-Top-Rezensent wird man nicht nur dadurch, daß man viele Kritiken schreibt. Sie müssen auch von möglichst vielen Lesern als „hilfreich” eingestuft werden. Ihre Rezensionen gelten bei den Lesern als besonders hilfreich. Was ist das Geheimnis Ihrer Rezensionen?

Ich denke, daß sich mein Lesen und Schreiben mit Herzblut auch in meinen Rezensionen wiederfindet. Ich setze mich intensiv mit der Geschichte auseinander, und da ich selbst diese Genres sehr gut kenne, weiß ich, wo der Autor Fehler gemacht hat und wo er besonderes Lob verdient.

Die Top-Rezensentin bei Amazon-USA hat 3000 Kritiken verfaßt, bekommt von den Verlagen freie Rezensionsexemplare, Hintergrundinformationen und gilt als einflußreicher als die meisten Printkollegen. Ist das ein Ziel für Sie?

Ein Wort nur: Ja!!!

Auf diesem Umweg zu einer echten Instanz zu werden, ist das nur in den Vereinigten Staaten möglich?

Die Deutschen sind da leider sehr verklemmt. Einer, der nicht studiert hat und nicht hundert Zeugnisse, Empfehlungen, Beziehungen vorzuweisen hat, hat es schwer. Aber ich habe Hoffnung. Wenn ich dazu beitragen kann, das Denken des verstaubten deutschen Literaturbetriebs etwas zu entstauben, dann habe ich viel geschafft. Im Dienste des Buches.

Das klingt immer alles so begeistert. Haben Sie noch nie ein Buch verrissen?

Verrissen ist so ein gemeiner Ausdruck. Im Moment fallen mir nur zwei ein. Zwei von denen, die ich vorhin Reich-Ranicki-Bücher nannte: „Liebesleben” von Zeruya Shalev. Ich kam über die ersten fünfzig Seiten nicht hinaus. Es ist an Eintönigkeit und Langeweile nicht zu überbieten. Es fehlt an allem, was für mich Lesen zur Freude macht. Und auch Reich-Ranickis Begeisterung für die Bücher von Bernhard Schlink kann ich nicht teilen. „Der Vorleser” war ein normaler Roman. Nichts großartig Besonderes.

Haben Sie „Tod eines Kritikers” gelesen?

Oh ja. Und ich meine: Alles Tohuwabohu, das um dieses Buch gemacht wurde, nimmt wirklich guten Spannungsromanen den Platz in den Medien. Das ist sehr schade. Denn „Tod eines Kritikers” ist ein Witz und kein Roman. In Amerika würden sie sich über solch ein Werk totlachen, es aber nicht drucken.

Wurde schon einmal eine Rezension von Ihnen nicht veröffentlicht?

Ja, einige.

Warum nicht? Amazon behauptet doch immer, sie würden alles veröffentlichen, was nicht zu Gewalt aufruft oder volksverhetzend wirken könnte?

Ich denke, die etwas heftigeren Kritiken, die ich gegenüber solchen erhitzt diskutierten Büchern untergebracht habe, waren wohl zu viel für Amazon.

Sie haben einen Fulltime-Job und besprechen im Monat doch bis zu acht Romane. Wann lesen Sie?

Ich stehe morgens eine Stunde früher auf, als es sein müßte, um zu lesen. Ich habe meinen Mittagstisch eingeschmälert, um lesen zu können. Und fast jeden Abend stehen zwei Stunden sicheres Lesen auf dem Programm.

Was ist Ihr Ziel?

Ich bin erst zufrieden, wenn den Autoren und ihren Büchern die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wird wie Schauspielern und ihren Filmen. Wohl kaum zu bewerkstelligen, aber wenn ich das schaffe, bevor ich sterbe, dann habe ich meine Mission in meinem Leben erfüllt.

Interview Volker Weidermann


Erklärkasten:
Amazon und die Top-Rezensenten

Die Online-Buchhandlung amazon.de gibt es seit September 1998. Für den Juni 2002 gibt Amazon die Zahl von 3,884 Millionen unterschiedlicher Nutzer pro Monat an. Zu jedem angebotenen Buch, Film oder Tonträger haben die Leser die Möglichkeit, eine Rezension zu verfassen. Bei amazon.de gibt es zur Zeit ca. 2,5 Millionen Leser-Rezensionen. Weltweit sind es acht Millionen. Seit einer Woche gibt es ein Ranking der Top-Rezensenten (amazon.de/top-rezensenten). Um Spitzenreiter zu werden, reicht es nicht, einfach die meisten Rezensionen geschrieben zu haben. Sie müssen auch von den meisten Lesern als „hilfreich” kategorisiert worden sein. Der aktuelle Top-Rezensent, Alexander Dengler, 27, Möbelkaufmann aus dem oberpfälzischen Parsberg, hat bislang 146 Rezensionen geschrieben, die von 739 Lesern als hilfreich eingestuft worden sind.
F.A.Z.

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